Multidimensionaler Blick auf das Coronavirus
Was geschieht im Einzelnen, wenn das Coronavirus SARS-CoV-2 eine Zelle infiziert? Im Fachmagazin „Nature“ zeichnet ein Team der Technischen Universität München (TUM) und des Max-Planck-Instituts für Biochemie ein besonders genaues Bild. Erstmals wurde die Interaktion zwischen Virus und Zelle auf fünf Ebenen parallel dokumentiert. Dieses Wissen hilft, das Virus besser zu verstehen und Ansatzpunkte für neue Medikamente zu finden.
Gelangt ein Virus in eine Zelle, beginnt ein Wechselspiel zwischen Proteinen des Erregers und denen des Körpers. Die Vervielfältigung des Virus, aber auch Gegenmaßnahmen der Zellen sind das Ergebnis komplexer Folgen von Protein-Signalen. Ein Team um Andreas Pichlmair, DZIF-Professor am Institut für Virologie der TUM, und Matthias Mann, Leiter der Abteilung „Proteomics und Signaltransduktion“ am Max-Planck-Institut für Biochemie, hat systematisch festgehalten, wie menschliche Lungenzellen auf einzelne Proteine des Covid-19-Erregers SARS-CoV-2 und des schon länger bekannten SARS-Coronavirus reagieren.
Eine detaillierte Interaktionskarte
Dafür wurden mehr als 1200 Proben mit modernsten massenspektrometrischen und bioinformatischen Verfahren analysiert. Das Ergebnis ist eine frei zugängliche Datenbank, die Auskunft darüber gibt, an welche Proteine die viralen Proteine binden und welche Auswirkungen das auf die Zelle hat. Insgesamt wurden 1484 Interaktionen zwischen Proteinen des Virus und denen der Zelle dokumentiert. „Hätten wir aber nur auf die Proteine selbst geschaut, hätten uns wichtige Informationen gefehlt “, sagt Andreas Pichlmair. „Eine Datenbank, in der nur das Proteom untersucht wird, könnte man mit einer Landkarte vergleichen, in der Ortsnamen, aber keine Straßen oder Flüsse verzeichnet sind. Kennt man die Verbindungen zwischen den einzelnen Punkten, lässt sich aus einer Karte viel mehr ablesen.“
Die Entsprechung zu dem Verkehrsnetzwerk sieht Pichlmair unter anderem in Veränderungen an Proteinen, sogenannten Phosphorylierungen und Ubiquitinierungen. Beides sind Prozesse, bei denen Moleküle an Proteine angehängt werden und dadurch deren Funktionsweise verändern. Bei einer reinen Auflistung der Proteine werden die Veränderungen nicht erfasst und man erfährt beispielsweise nicht, ob ein Protein aktiv oder inaktiv ist. „Durch unsere Untersuchungen können wir neben den zellulären Molekülen, die durch das Virus ausgeschaltet werden, erstmals den einzelnen Bestandteilen des Erregers systematisch Funktionen zuordnen“, erläutert Pichlmair. „Eine vergleichbare Aufstellung gab es für SARS-CoV-2 bislang nicht“, ergänzt Matthias Mann. „Wir haben gewissermaßen fünf Dimensionen des Virus während einer Infektion unter die Lupe genommen: seine eigenen aktiven Proteine und seine Auswirkungen auf Proteom, Ubiquitinom, Phosphoproteom und Transkriptom der Zelle.“
Einblicke in die Arbeitsweise des Virus
Die Datenbank kann unter anderem als Werkzeug dienen, um neue Medikamente zu finden. Durch eine Analyse der Protein-Interaktionen und -Modifikationen lassen sich sogenannte Hotspots identifizieren. Diese Virusproteine interagieren bei einer Infektion mit besonders vielen wichtigen Partnern im Körper und sind ein geeigneter Ansatzpunkt für Therapien. Beispielsweise schlossen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anhand der Daten darauf, dass bestimmte Substanzen das Wachstum von SARS-CoV-2 hemmen würden. Unter den identifizierten Wirkstoffen waren solche, deren antivirale Funktion bekannt ist, aber auch Substanzen, die bislang noch nicht in Hinblick auf eine Wirksamkeit gegen SARS-CoV-2 untersucht wurden. Um herauszufinden, ob sie im klinischen Einsatz gegen Covid-19 Wirksamkeit zeigen, werden weitere Untersuchungen benötigt.
„Aktuell arbeiten wir an neuen Wirkstoff-Kandidaten für Covid-19, die wir durch unsere Analysen identifizieren konnten“, sagt Andreas Pichlmair, der im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) eine Professur für Immunpathologie und virale Infektion innehat. „Außerdem entwickeln wir derzeit ein Scoring-System, eine Methode, um Hotspots automatisiert zu finden. Ich bin überzeugt, dass wir durch detaillierte Datensätze und intelligente Analysemethoden in Zukunft wirksame Medikamente gezielter entwickeln und Nebenwirkungen vorab eingrenzen können.“
Quelle: TUM-Pressemitteilung