Eine Liste mit Krankheitserregern setzt Prioritäten für die Antibiotika-Forschung
Antibiotika-resistente Bakterien breiten sich besorgniserregend aus – und der Ruf nach neuen Wirkstoffen wird immer lauter. Doch welche Antibiotika werden am dringendsten gebraucht? Heute veröffentlicht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals eine Liste von zwölf Bakteriengruppen, die in der Forschung und Entwicklung neuer Antibiotika zukünftig Priorität haben sollten. DZIF-Wissenschaftler an der Universität Tübingen waren maßgeblich an der Entwicklung dieser Prioritätenliste beteiligt. Wir sprachen mit der Leiterin der Gruppe, Prof. Evelina Tacconelli, über die Entwicklung und die Ziele der Auswahl.
Worum genau handelt es sich bei dieser Priority Pathogen List?
Evelina Tacconelli: Antibiotika-Resistenzen stehen seit dem G20-Gipfel 2015/16 ganz oben auf der Agenda des deutschen Gesundheitsministers. Aus diesem Grund hat das Ministerium die WHO gebeten, eine Prioritätenliste zu entwickeln. Diese Liste soll aufzeigen, welche Antibiotika mit dringender Priorität neu entwickelt werden müssen und gegen welche Keime sie gerichtet sein sollten. Denn Deutschland hat den Auftrag, in Zusammenarbeit mit anderen Ländern ein ökonomisches Programm zur Förderung der Antibiotika-Forschung aufzustellen. Hierzu ist es notwendig, bereits im Vorfeld zu verstehen, wo und für welche Mikroorganismen Fördergelder investiert werden sollten. Das Problem ist, dass die Pharmaindustrie momentan nicht in die Entwicklung neuer Antibiotika investieren will, weil es für sie wirtschaftlich nicht interessant ist. Deswegen ist die Prioritätenliste so wichtig: Die WHO macht damit konkrete Vorschläge, wohin das Geld fließen soll.
Wie hat man die wichtigsten Pathogene ausgewählt?
Evelina Tacconelli: Ich bin sehr stolz auf unsere Methode, mit der wir die Liste zusammengestellt haben. Es handelt sich um eine so genannte „Multi Criteria Decision Analysis“. Mit dieser neuen Methode haben wir Evidenz-basierte Daten mit Expertenmeinungen verknüpft. Dazu haben wir zunächst die Evidenzen für neun Kriterien wie zum Beispiel „Mortalität“, „Bürde in Krankenhäusern und in der Gesellschaft“, „Übertragbarkeit“ und „Verhütbarkeit“ in der Literatur und in Projekten recherchiert. Anschließend haben wir die Evidenzen 70 Experten aus den sechs WHO-Regionen vorgelegt, ohne dass sie die Namen der Bakterien kannten. Dazu haben sie ihre Meinung abgegeben, wo die Prioritäten liegen sollten. Aus diesen Daten haben wir mit statistischen Methoden letztendlich die finale Liste ermittelt.
Geht es vor allem um Krankenhauskeime oder um alle Antibiotika-resistenten Bakterien?
Evelina Tacconelli: Wir haben alle Antibiotika-resistenten Bakterien berücksichtigt. Am Ende haben wir zwölf Bakteriengruppen ausgewählt. Diese haben wir in drei Gruppen eingeteilt: Erreger mit kritischer, hoher und mittlerer Priorität. Wie erwartet, sind beispielsweise Bakterien wie Acinetobacter, Pseudomonas und verschiedene Enterobakterien wie E. coli, die in Krankenhäusern gefährlich sind, in die Gruppe mit kritischer Priorität eingeordnet worden. Andere, wie zum Beispiel Gonokokken oder Salmonellen, wurden als hohes Risiko klassifiziert.
Für wen wurde die Liste entwickelt?
Evelina Tacconelli: Die Zielgruppen sind die Pharmaindustrie und alle Forschungseinrichtungen, die neue Antibiotika entwickeln – und in Deutschland gibt es viele davon. Wir sprechen den Privatsektor, aber auch Universitäten oder große Forschungsgruppen an, die ihre Planung für die nächsten 15 Jahre in Angriff nehmen wollen. Die Idee ist, dass die Gesundheitsminister auf nationaler Ebene beschließen, genau hier zu investieren und damit Anreize für diejenigen zu schaffen, die in den kommenden Jahren Antibiotika gegen die genannten Bakterien entwickeln. In den nächsten fünf Jahren sollten Anreize eher für die Forschung hinsichtlich multiresistenter gramnegativer Bakterien gegeben werden. Bisher wurden viele Antibiotika gegen grampositive, wie z. B. MRSA-Stämme entwickelt, aber das ist nicht mehr das Hauptproblem.
Was versprechen Sie sich von dieser Liste?
Evelina Tacconelli: Ich denke, dass dieses Jahr die richtige Zeit dafür ist. Erstmals sprechen wir über Gelder, die wir benötigen, um das Problem der Antibiotika-Resistenzen zu beheben. Allen ist klar: Man muss die Mortalität reduzieren. Aber das ist auch ein großes ökonomisches Problem. Deshalb ist es wichtig, gerade jetzt eine Planung für die Zukunft aufzustellen um die zunehmende Problematik der multiresistenten Erreger anzugehen und neue Antibiotika zielgerichtet zu entwickeln. Ich bin davon überzeugt, dass auch die pharmazeutische Industrie diese Liste in ihrer Planung berücksichtigen wird.
Wer war alles beteiligt an der Erstellung der Liste?
Evelina Tacconelli: Meine Gruppe hat mit Experten der WHO zusammengearbeitet, wobei wir in Tübingen die Projekte geleitet haben. Wir hatten ein „Coordinating Board“ mit acht Experten aus verschiedenen Ländern. Darüber hinaus haben wir acht Experten der „Major Stakeholders“ wie zum Beispiel ECDC, EMA, FDA, NIH und CDC involviert und zusätzlich 70 Experten aus Europa, Amerika, Asien, Afrika und Australien.
Welche DZIF-Projekte gibt es bereits, die diese prioritären Organismen in den Blick nehmen?
Evelina Tacconelli: Das DZIF forscht im Schwerpunkt „Neue Antibiotika“. Wir tauschen uns mit vielen DZIF-Kollegen über diese Liste aus. Es gibt – neben anderen – eine Reihe von DZIF-Projekten, die bereits die prioritären Organismen erforschen. Ich hoffe, dass diese Liste auf die weitere Prioritätensetzung auch im DZIF Einfluss hat. Dies ist ein gutes Beispiel für translationale Forschung im DZIF: Die Kliniker erkennen, wo die Probleme liegen und wir arbeiten mit den Fachleuten aus der Grundlagenforschung zusammen, um letzten Endes neue Therapeutika entwickeln zu können.
Pressemitteilung der WHO zur Priority Pathogen List
Vollständiger Report der WHO