Präklinische Entwicklung von Amidochelocardinen
Die Herausforderung der Antibiotikaentwicklung besteht heute darin, neuartige bioaktive Substanzen zu entwickeln und zu optimieren, die keine Kreuzresistenzen mit klinisch eingesetzten Antibiotika aufweisen und das idealerweise aufgrund eines neuartigen Wirkmechanismus (MoA), der bisher unerschlossene mikrobielle Zielgruppen adressiert. Im Falle von Chelocardin wurde diese antibiotische Substanz bereits vor mehreren Jahrzehnten identifiziert und wird als „atypisches Tetrazyklin“ bezeichnet – diese Bezeichnung beruht auf strukturellen Ähnlichkeiten mit der bekannten Klasse von Antibiotika, die als Inhibitoren der bakteriellen Proteinsynthese wirken. Chelocardin weist jedoch hinsichtlich seiner Chemie und Bioaktivität einzigartige Eigenschaften und mindestens einen zweifachen Wirkmechanismus auf, der vermutlich gegen unbekannte Zielmoleküle („Targets“) in der Bakterienmembran gerichtet ist. In jüngsten Studien konnten sowohl die Wirksamkeit als auch die Stabilität der Verbindung durch Gentechnologie verbessert werden. Resultat ist das neuartige Derivat Amidochelocardin, das derzeit einer strukturellen Optimierung unterzogen wird, damit es als neuer Kandidat für präklinische Studien gewonnen wird. Aufgrund seiner pharmazeutischen Eigenschaften wird der Wirkstoff entwickelt, um letztlich Harnwegsinfektionen zu behandeln, insbesondere solche, die durch multiresistente Uropathogene – Erreger von Harnwegserkrankungen – verursacht werden.
Hintergrund
Chelocardin wurde Anfang der 1960er Jahre isoliert und beschrieben als ein Molekül, das auf ein breites Spektrum an Bakterien einwirkt. Man stellte fest, dass es trotz seiner Ähnlichkeiten mit der Klasse der Tetrazykline durch einen noch unbekannten antimikrobiellen Mechanismus wirkt. Besonders bedeutsam ist die starke Wirksamkeit dieser Verbindung bei der Abtötung verschiedener gramnegativer Krankheitserreger, die zu den größten globalen Gesundheitsbedrohungen gehören, insbesondere wenn Multiresistenzen gegen derzeit verwendete Antibiotika vorliegen. Einige dieser gefährlichen Bakterien werden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Erreger eingestuft, die in der Forschung hohe Priorität haben sollen. Das Naturprodukt Chelocardin wird von dem nicht-pathogenen Bodenbakterium Amycolatopsis sulphurea produziert und kann unter optimierten Laborbedingungen relativ gut isoliert werden (mehr als ein Gramm Substanz pro Liter Bakterienkultur). Seine Biosynthese sowie der entsprechende biosynthetische Gencluster, der für eine hochkomplexe Enzymmaschinerie namens „Polyketidsynthase“ kodiert, wurden erst kürzlich beschrieben.
Trotz des geringen Wissens über seinen detaillierten Wirkmechanismus setzten Abbot Laboratories (USA) die Substanz bereits in den 1970er Jahren für eine kleine klinische Phase-II-Studie ein, in der Patienten aufgrund von Niereninfektionen in einer Klinik in Zagreb, Kroatien, stationär aufgenommen waren. Die Ergebnisse dieser Studie um Chelocardin waren bei einer Kohorte von zwölf Patienten sehr vielversprechend. Allerdings blieb dieses Arzneimittel in einer Zeit, in der Antibiotikaresistenz noch nicht als große Gesundheitsgefahr begriffen wurde, als Kandidat für eine weiterführende therapeutische Entwicklung unberücksichtigt.
Strukturelle Optimierung des Wirkstoffs
Mit zunehmendem Bedarf an neuartigen antimikrobiellen Therapeutika und aufgrund der vielversprechenden Aktivität von Chelocardin sowie dem Fehlen von Kreuzresistenzen mit bekannten Antibiotika beschlossen Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI), das vernachlässigte Molekül erneut aufzunehmen, um neue Chelocardin-Analoga mit verbesserten bioaktiven Eigenschaften herzustellen. Ein Teil dieses Programms wird in Zusammenarbeit mit dem Industriepartner AciesBio sowie der Forschungsgruppe von Prof. H. Petkovic an der Universität Ljubljana, Slowenien, durchgeführt, welche ihre Expertise in der Genetik und Kultivierung von Produzentenstämmen sowie der Isolierung von Naturstoffen zur Verfügung stellen.
Von Chelocardin zu Amidochelocardin
Erst kürzlich wurde ein bedeutender Schritt hin zur strukturellen Verbesserung des Wirkstoffs gemacht: Die Biosynthese des Chelocardin-Moleküls wurde verändert, indem Gene aus einem klassischen Tetrazyklin-Biosyntheseweg in den Amycolatopsis-Stamm eingebracht wurden. Das Ergebnis dieses biotechnologischen Prozesses war eine Art Hybridmolekül, das strukturelle Eigenschaften des Chelocardins und des Oxytetrazyklin-Gerüsts kombiniert und „Amidochelocardin“ genannt wurde. Auffallend war, dass die neuartige Verbindung eine erhöhte Bioaktivität gegenüber mehreren prioritären Krankheitserregern zeigte und über einen längeren Zeitraum in Lösung stabiler war. Dies ist eine wichtige pharmazeutische Eigenschaft, die für die Wirksamkeit der Behandlung erforderlich ist.
Das Molekül auf dem Weg in die Klinik
Seit 2016 wird die kontinuierliche pharmazeutische Verbesserung von Amidochelocardinim Rahmen eines gemeinsamen translationalen Entwicklungsprojektes im Forschungsbereich „Neuartige Antibiotika“ durch das DZIF unterstützt, um das Molekül auf den Weg in die Klinik zu bringen. Derzeit arbeiten fünf HZI-Forschergruppen an den Standorten Hannover/Braunschweig und Saarbrücken daran, verschiedene Eigenschaften des Amidochelocardin-Moleküls in Bezug auf sein Bioaktivitätsprofil zu optimieren, ein Prozess, der „SAR-Profiling“ genannt wird. Sie zielen auch darauf ab, die Produktion und Reinigung der Verbindung und weiterer struktureller Analoga, die durch chemische Modifikation des (Amido-)Chelocardin-Gerüsts erzeugt werden, zu verbessern und auch den Wirkmechanismus durch verschiedene genetisch/physiologische und biochemische Ansätze zu entschlüsseln.
In Tierversuchen konnte bereits eine Wirksamkeit im Mausinfektionsmodell gezeigt werden. Zur Optimierung der Wirksamkeitsparameter der Leitstrukturen für anstehende präklinische Studien werden weitere pharmakologische Daten zum Beispiel durch den Einsatz von Mausmodellen am HZI oder mit externen Partnern erfasst. Die Indikation für eine geplante therapeutische Behandlung bleibt im Wesentlichen unverändert gegenüber der Indikation, die bereits in der frühen klinischen Studie von 1977 gefunden wurde, nämlich die Verwendung des neuartigen Medikaments zur Heilung komplizierter Harnwegsinfektionen. Im Fokus stehen Infektionen mit multiresistenten Enterobakterien, die ESBL(Extended Spectrum β-Lactamasen) produzieren und mit den meisten gängigen Antibiotika nicht behandelt werden können.